Ohnmächtige Sehnsucht. Zum
Verlust utopischen Denkens in der Spätmoderne
Max Horkheimer beschrieb die frühneuzeitliche Utopie »als
Ausdruck ohnmächtiger Sehnsucht«, weil in der Epoche ihrer Entstehung die
materiellen Mittel zur Realisierung der Gesellschaftsentwürfe nicht zur
Verfügung standen. In der spätmodernen Gegenwart hingegen ist es weniger der
Mangel an Mitteln als das Schwinden des »Möglichkeitssinns« (Robert Musil), das
die Menschen zur Ohnmacht verdammt. Was Theodor W. Adorno in einem Radiogespräch
mit Ernst Bloch bereits 1964 als »seltsame Schrumpfung des utopischen
Bewusstseins« problematisierte, scheint heute im Verschwinden jeglichen
utopischen Denkens zu terminieren.
Die Erschöpfung utopischer Phantasie steht in engem
Zusammenhang mit der Aufgabe der Idee gesellschaftlichen Fortschritts. In der
Moderne wurde der Zeit selbst eine utopische Kraft zugesprochen; ihr
Fortschreiten sollte die Differenz zwischen gegenwärtiger Verheißung und
zukünftigem Eintritt in eine bessere Welt aufheben. Die postmodernen
Erklärungen des Endes der »großen« fortschrittsorientieren Erzählungen
(Jean-François Lyotard) oder des Eintritts in die »Risikogesellschaft« (Ulrich
Beck) antizipieren die Zukunft nur noch als andere, nicht mehr als mögliche
bessere. Weil sie notwendig den Erwartungshorizont der Gegenwart sprengt,
erklärt die Systemtheorie die Zukunft gar zur »konkreten Anti-Utopie« (Armin
Nassehi). Wie wenig die historische Entwicklung der Fortschrittsidee
entspricht, haben spätestens die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts gezeigt. »Dass
es ›so weiter‹ geht«, schrieb Walter Benjamin in diesem Sinne bereits in den
1930er Jahren, »ist die Katastrophe«. Formulierten
Benjamin und die eingangs genannten Autoren der Dialektik der Aufklärung ihre Kritik am teleologischen Geschichts- und
Fortschrittsdenken noch mit der Intention, die Möglichkeit einer anderen
Gesellschaft zu retten, werden die bestehenden Verhältnisse in zahlreichen
postmodernen Gegenwartsdiagnosen ontologisiert. Wenn in der Gegenwart überhaupt
»große Erzählungen« formuliert werden, dann tragen diese eher apokalyptische
Züge: Einem realpolitischen
Bewusstsein, das sich mit Umweltzerstörung, Naturkatastrophen,
»Demokratieverdrossenheit«, politischen Steuerungsproblemen und mit einem
krisenhaften ökonomischen System auseinandersetzt, stehen sozialphilosophische
Theorien vom »Ende der Geschichte« und vom »Tod des Subjekts« zur Seite.
Utopisches Denken hatte die abendländische Geschichte zwar
bereits seit Platons Politeia geprägt,
es gewann jedoch erst mit der modernen Entdeckung der Gestaltbarkeit von
Zukunft formgebende Kraft. Auch jenseits expliziter Utopie-Entwürfe ist
utopisches Denken aus dem politischen und kulturellen Selbstverständnis der
Moderne nicht wegzudenken. Vor diesem Hintergrund möchte die Konferenz
»Ohnmächtige Sehnsucht« der Frage nachgehen, welche Konsequenzen sich aus dem
tendenziellen Verlust utopischen Denkens für die gegenwärtige Gesellschaft
ergeben. Was bedeutet es, mit den utopischen Horizonten auch jegliche
Entwicklungsperspektive zu verlieren? Welche gesellschaftlichen Prozesse
bedingen diesen Wandel? Wie wird er theoretisch reflektiert, inwiefern wird er
affirmiert und welche Konsequenzen ergeben sich hieraus für kritisches Denken?
Diesen und anderen Fragen wird sich die Konferenz im Rahmen
verschiedener Panels zu Phantasie und Kunst, Utopie und Terror, Politik und
Ressentiment, Technikfetischismus und Geschichtslosigkeit sowie Messianismus
und Religion widmen.
Mit Beiträgen von: Bini Adamczak (Berlin), Heiko Beyer
(Leipzig/Göttingen), Iris Dankemeyer (Berlin), Alexander García Düttmann
(London), Anne Eusterschulte (Berlin), Nancy Fraser (New York), Russell Jacoby
(Los Angeles), Richard Saage (Berlin), Alexandra Schauer (Berlin/Jena),
Matthias Schirren (Kaiserslautern), Christian Schmidt (Berlin), Christoph
Schulte (Potsdam), Volker Weiß (Hamburg)
Organisation: Christoph Kasten, Doris Maja Krüger,
Alexandra Schauer, Sebastian Tränkle
In Kooperation mit Anne Eusterschulte (Institut für
Philosophie, FU Berlin)
1. bis 3. November 2013
Veranstaltungsort:
Institut für Philosophie
Freie Universität Berlin
Habelschwerdter Allee 30
14195 Berlin
Abonnieren
Posts (Atom)